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Aktueller Prospekt Rossmann - Prospekte - von 31.01 bis 06.04.2025

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G eschichten haben einen Anfang - diese hat sogar zwei. Sie beginnt einerseits vor ungefähr 100.000 Jahren, an einer Pfütze, mit einem Mann. Er schöpft mit einer Hand Wasser in den Mund, so gelangen Millionen von Mikroorganismen, Bakterien, Einzeller, Pflanzenreste, Schlamm- und Schmutzpartikel hinein. Einiges davon haftet an Zahnfleisch, Gaumen und Zähnen an, es wird erst eine weiche Plaque bilden, später wird dieser Zahnbelag mineralisiert werden, „übersteint“, wie die Forscher sagen. Inklusive der Bakterien. Die können jetzt keinen Schaden mehr anrichten, sie sterben ab. Aber ihre DNA wird bleiben. Und da die Zähne das härteste Material sind, das der Körper ausbilden kann, stehen die Chancen nicht schlecht, dass diese Zähne auch noch nach dem Tod unseres Neandertalers erhalten bleiben, inklusive bakterieller DNA. 100.000 Jahre nach der Szene mit dem durstigen Neandertaler nimmt unsere Geschichte ihren zweiten Anfang. Denn jetzt sollen uns die Neandertaler posthum mit Antibiotika versorgen, hergestellt aus der DNA ausgestorbener Bakterien. Pierre Stallforth ist der „Vater“ dieser Idee. Er ist Professor für Bioorganische Chemie und Paläobiotechnologie an der Universität zu Jena sowie stellvertretender Direktor des Leibniz-Instituts für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie. Vor drei Jahren hat er eine Forschergruppe zusammengetrommelt und gemeinsam ein eigenes Forschungsgebiet erfunden. Drei Jahre sind sie einer Idee nachgegangen, haben zwölf Neandertaler-Proben und 52 anatomisch moderne Menschen untersucht, teilweise auch die DNA-Sequenzen aus anderen Forschungen genutzt; Proben, die einen Zeitraum von 100.000 Jahren umfassen. „Die Paläobiotechnologie bietet die Chance, die Suche um eine Dimension zu erweitern: Zeit! Wenn wir an sehr alter DNA die Funktion rekonstru- ieren könnten, hätten wir einen Bauplan in den Händen, mit dem sich Proteine herstellen ließen.“ Wofür? „Sie erzeugen Antibiotika.“ Antibiotika ist es zu verdanken - neben besserer Hygiene und einer guten Versorgung mit Lebensmitteln -, dass die durchschnittliche Lebenserwartung seit dem Zweiten Weltkrieg um über 20 Jahre gestiegen ist. Doch ist dieser Vorteil für die Menschheit in Gefahr. Denn Bakterien passen sich unentwegt an und entwickeln Strategien zur Abwehr. So gilt die zunehmende Zahl resistenter bakterieller Krankheitserreger als „schleichende Pandemie“, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt sie zu den größten globalen Bedrohungen der Menschheit. Verantwortlich ist zum einen der übermäßige Einsatz von Medikamenten in der Massentierhaltung, zum anderen der schnelle Griff zu Antibiotika selbst bei Erkältung. „Aus wissenschaftlicher Sicht können wir das Problem der Antibiotikaresistenzen lösen“, so Marc Gitzinger vom Biotechnologieunternehmen BioVersys, das nach neuen Wirkstoffen sucht. Doch wo findet man neue Antibiotika? Zum Beispiel in der DNA von Bakterien. Auch wenn diese ausgestorben sind - an den Zähnen von Neandertalern beispielsweise haben die genetischen Codes dieser Bakterien die Zeitläufte überstanden. Nicht ganz und völlig unbeschadet - aber doch so weit intakt, dass man die Lücken vielleicht auffüllen, die DNA rekonstruieren kann. Hat man die DNA erst wieder zusammengesetzt, könnte man Funktionen des Bakteriums wiederherstellen. Und so ließe sich - vielleicht - ein neues Antibiotikum generieren. Das ist der Plan. Es ist genetische Detektivarbeit. Die Erbgutfragmente, die Stallforth und sein Team aus allen untersuchten Zahnsteinproben zur Verfügung hatten, stammten von Neandertalern und Homo sapiens. Mal waren es „nur“ drei Millionen, mal 338 Millionen Bruchstücke. Die fügte Stallforth nach und nach zu mehr oder weniger vollständigen DNA-Strängen von Dutzenden Bakterien zusammen. Immer wieder glich er die Ergebnisse mit einer riesigen Gen-Datenbank ab. Dies führte schließlich zum Ziel: der Identifizierung des Erbguts sehr alter Bakterien. Aus dem Zahnstein der Neandertaler. Heureka! Jetzt konnte der nächste Schritt erfolgen. Neben vielen bekannten Bakterien fand Stallforths Team ein unbekanntes Mitglied der Gattung Chlorobium, auch „Grüne Schwefelbakterien“ genannt. In unserer heutigen Mundflora tauchen sie nicht auf. Aber es ist plausibel, dass sie in den Mündern von Neandertalern gedeihen konnten. Alle sieben Chlorobium-Genome enthielten einen Bauplan für Enzyme, die Antibiotika herstellen könnten, genannt Biosynthese-Gencluster. „Nun wollten wir herausfinden, was diese Gencluster bewirken können“, sagt Stallforth. Er baute die Gene in lebende Bakterien ein. Tatsächlich produzierten diese gentechnisch veränderten Mikroorganismen ein neues Molekül. „Damit ist es uns erstmals gelungen, Substanzen neu herzustellen, die vor 100.00 Jahren von Bakterien produziert wurden“, sagt Stallforth. Zwar zeigt dieser erste Kandidat nur eine geringe antibakterielle Wirkung. Doch es ist der erste Beweis, dass Antibiotika auch in Gencodes aus ferner Vergangenheit zu finden sind und sich im Hier und Jetzt herstellen lassen. Die Suche im Land der Paläobiotechnologie hat damit erst begonnen. 25